46.25 Zu leben fordert kontinuierlich die Pflicht zu dienen

 

BETENDER RUF

 

Und man erinnert sich an die Kränkungen, man erinnert sich an die Unannehmlichkeiten, man erinnert sich an die gescheiterten Verhaltensweisen, man erinnert sich an die Fehler anderer, man erinnert sich an die Verfehlungen, und man schafft ein großes Lagerhaus der Erinnerung, nicht historisch, sondern voreingenommen, um es in der Gegenwart und für die Zukunft zu nutzen.

Ebenso erinnert man sich an das Erfolgreiche, an das Erreichte, an das Getane, um die Apathie, die Lustlosigkeit, die Bequemlichkeit der Gegenwart und der Zukunft zu rechtfertigen.

 

In dieser Polarität werden die Erinnerungen erneut eingesammelt, um eine passive Gegenwart und eine nicht existierende Zukunft zu rechtfertigen, die sicherlich das wiederholen wird, was kritisiert oder bewundert wurde. Und dabei bleibt es dann auch. Folglich wird keine Evolution zu sehen sein; die Haltung, etwas zu entdecken, zu lernen und zu integrieren, um zu dienen, um der Pflicht zu dienen… bleibt unerfüllt.

Und so werden die Geschichten chronisch und Ereignisse zu Wiederholungen.

Gut ist die Erinnerung an das, was antreibt, was erzeugt, was steigert, was man überprüft hat und was man gelebt hat.

Zweifellos ist dies eine der Fähigkeiten der Erinnerung.

 

Der Betende Ruf bringt bei jeder Begegnung neue und unterschiedliche Ansätze der alltäglichen Realitäten mit sich, mit der Mission – ja, SIE rufen zur Mission auf –, neue Realitäten zu schaffen, die uns vom Joch der Gewohnheit, der Bequemlichkeit, der Sicherheit und der Kritik des permanenten „Unfalls” befreien.

All dies führt dazu, dass wir unsere gesamte Umgebung mit Normen, Gesetzen oder Vorschriften klassifizieren, die Wurzeln schlagen, die fest werden.

Wo bleibt da die Hoffnung? Wo bleibt da der Weg ins Unbekannte?

 

Die Analyse der Gegenwart und Zukunft auf der Grundlage der veralteten Wurzel des Geschehenen fördert nicht die befreiende, dienende Natur des Wesens, sondern passt es vielmehr an, gibt ihm die – in Anführungszeichen – „Sicherheit” dessen, was wiederholt gemacht wird.

Und so wird jede Innovation, jede Äußerung von etwas anderem als dem Etablierten zu einem Berg; zu einem Berg, den es zu erklimmen gilt und der fast unmöglich zu bewältigen ist.

Das Alltägliche wird zum Problem, und kaum taucht die Haltung auf, etwas zu lösen, zu beheben...; die Pflicht zu korrigieren, die Pflicht einzugreifen, sich zu beteiligen... als notwendiges Ereignis, den Dienst zu einer Pflicht zu machen und nicht – wie es normalerweise der Fall ist – die Rechte einzufordern, ohne die Pflichten erfüllt zu haben.

 

Der Betende Ruf regt uns dazu an, diese Pflicht als eine Notwendigkeit zu interpretieren: als eine Notwendigkeit des Wesens in seinem Dienst. Ja. Wenn jedes Wesen in der Schöpfung erscheint, weil es notwendig und unerlässlich ist – „notwendig und unerlässlich” – und dafür mit Ressourcen ausgestattet wird, wird die Pflicht zu einer Notwendigkeit. Und durch den Dienst werden die Erwartungen der Gegenwart und der Zukunft erfüllt.

 

Und so, wenn man die Pflicht nicht als Obligation, nicht als Auferlegung betrachtet, sondern als etwas, was benötigt wird, schreitet das Leben auf der Grundlage der Bedürfnisse voran und erfordert die Erfüllung von Pflichten, damit diese Bedürfnisse befriedigt werden.

Und so kommt es, dass, wenn sich das Wesen gebraucht fühlt, dass es gebraucht wird, es seinen Dienst begeistert und entschlossen ausübt, um seinen Gaben gerecht zu werden.

 

Dienst und Pflicht werden so zu einer Einheit, die sich an die Fähigkeiten jedes Wesens anpasst.

Und in dieser Position ist zu erwarten, dass niemand von jemandem dessen Beteiligung, dessen Einsätze fordert, das Einbringen dessen, was man hat, und dass man sich gegenüber neuen – immer neuen – Dispositionen öffnet.

 

Pflicht ist keine Schuld, sondern eine Notwendigkeit.

 

Das Leben ergibt sich und ist – ohne dass man es definieren kann – eine gemeinschaftliche Einheit... sei sie nun nah oder fern, gemäß unseren sehr begrenzten Maßstäben. In der Gemeinschaft des Lebens gibt es weder Ferne noch Nähe, es ist eine Einheit, die uns übersteigt und in der wir... entworfen wurden. Wir können nicht entkommen. Wohin auch?

Befindet sich der Individualist, der Personalist und Sektierer etwa außerhalb der Einheit der Gemeinschaft des Lebens?

Nein. Im Gegenteil: Er nutzt diese Gemeinschaft aus, um sie zu entführen und zu versklaven, was ihm jedoch in keinem Fall gelingen wird. Vorübergehend mag es jedoch so aussehen.

 

Oftmals glaubt man, dass die Pflichten vollendet sind...

Aber wenn sie sich in unserer Gemeinschaft mit dem Schöpfer Mysterium verfeinern, ist das Vollenden eine Grenze.

Das Leben geht über das Vollendete hinaus.

Und wenn wir uns im Leben gemäß den Vorschlägen des Schöpfer Mysteriums positionieren, gibt es zu keinem Zeitpunkt eine Grenze...; ja – entsprechend dem lebendigen Verstreichen – ein fortschreitendes Vorankommen... das man mehr oder weniger sehen kann, aber da ist, da wir da sind und da weitermachen.

 

Der Wunsch, Pflichten und Dienste auf einen „erfüllten” Moment zu beschränken, hindert uns daran, den Sprung ins Unbekannte zu wagen, zu dem, was noch nicht gelernt wurde.

 

Es ist notwendig, sich in dem Unbekannten zu entdecken. Es ist notwendig auf das einzuwirken, was sein kann, auf das, was kommt, ohne zu wissen, was es ist. Und die alten Formeln und Urteile aufzugeben, denn mit ihnen bleiben wir in der Vergangenheit gefangen.

 

 

Die Tendenz herausfordern, die Trägheit herausfordern, die Gewohnheit herausfordern, das Urteil herausfordern ... herauszufordern ohne Gewalt, mit der Kraft des Handelns, mit den Beispielen der erfüllten Pflichten, die das Handeln anderer ermöglichen. Und wiederum ermöglicht uns das Handeln anderer andere Ereignisse.

Alles geschieht gleichzeitig, auch wenn es uns schwerfällt, es miteinander zu verbinden, auch wenn es uns schwerfällt, es zu verstehen.

Die Auffassung „verstehen” ist verbunden mit dem Begriff zu besitzen, zu beherrschen, zu manipulieren.

Mehr als zu „verstehen“, bedeutet es, jenes in sich aufzunehmen, was uns fördert, was uns dazu bringt, das Unmögliche herauszufordern.

 

 

Wenn wir uns beispielsweise Fähigkeiten ansehen, die wir bereits als möglich ansehen, wie Lesen, Schreiben ... bevor dies geschieht, erscheint es uns, wenn wir vernünftig darüber nachdenken, als eine fast unmögliche Möglichkeit.

Und wir müssen diesen Buchstaben wiederholen und wiederholen und wiederholen, und noch einen und noch einen. Und wenn wir dies mit dem Bewusstsein tun, dass wir es schaffen können, dann deshalb, weil wir bereits eine vorherige Erfahrung gemacht haben. Aber aus rein methodologischer Sicht und unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeiten heraus erscheint es uns – diesem Lernenden von Sprache, Buchstaben und Wörtern – als unmöglich.

Es ist ein einfaches und vielleicht wenig wirksames Beispiel, aber wenn wir uns vor Augen führen, was es für die evolutionäre Entwicklung des Menschen bedeutet hat, schreiben und lesen zu lernen, dann hat dies zweifellos unsere Perspektiven auf allen Ebenen verändert.

Als Beispiel kann es uns folglich dienen, um uns angesichts von Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten und andere Situationen eine Referenz zu bieten, die unüberwindbar erscheinen.

 

(2 Minuten Stille)

 

Es muss kein anstrengender und schwieriger Aufstieg sein, neue Fähigkeiten, neue Verantwortlichkeiten und andere Möglichkeiten anzunehmen. Angesichts dieser Schwierigkeiten reicht es aus, sich an die Entwicklungen zu erinnern, die es gegeben hat und die sich nicht abgefunden haben mit: „Ach, so ist das eben“.

 

Hätte sich die Gemeinschaft des Lebens in der Vergangenheit mit dem Status quo abgefunden und hätte sie keinen Sprung hin zu neuen Perspektiven gemacht, wäre das Leben als Einheit verschwunden.

Und die Tatsache, dass es weitergeht, liegt daran, dass wir in uns aufnehmen, dass wir gleichzeitig, wie wir stagnierende Positionen ablegen, erstaunliche Innovationen in uns aufnehmen.

Heute halten wir es beispielsweise für selbstverständlich, ein iPhone, ein Tablet oder eines dieser Geräte zu öffnen und innerhalb von nur einer Stunde beispielsweise die wichtigsten Zeitungen und Nachrichtenagenturen zur Verfügung zu haben.

Wären wir bei der Morgenzeitung geblieben, hätten wir diese oder jene Abendzeitung kaufen und Seite um Seite umblättern müssen, hätten wir nicht den Sprung geschafft, in einem Augenblick eine erweiterte Vision über ein Ereignis zu erhalten.

Heute sehen wir das als normal an, aber es hat zweifellos Anstrengung, Engagement, Recherche, Schlussfolgerungen, Glauben und Lernen erfordert.

 

Heute sieht man zum Beispiel mehr Kinofilme als je zuvor. Und heute sind die Kinosäle leerer denn je. Zum Beispiel. Es ist weder besser noch schlechter, aber es war eine absolut großartige Veränderung, Zugang zu einem täglichen, kontinuierlichen Filmangebot zu haben ... während man vor nicht allzu langer Zeit noch eine Eintrittskarte kaufen und schauen musste, wann man hingehen konnte.

 

Wir können jedweden Aspekt – jedweden Aspekt – unseres Alltags wählen, um zu sehen, dass das Engagement, der Dienst und die Pflicht derer, die über das Etablierte hinausblickten, die Formen und Normen verändert haben.

Ein Brief brauchte eine Woche, zehn Tage, je nachdem, wohin er ging. Heute braucht ein Brief Sekunden, Minuten, während man ihn schreibt oder liest, fast augenblicklich.

Und das ist geschehen – und ich betone, dass man Tausende von Beispielen in jedem anderen Bereich anführen könnte –, das ist geschehen, weil es Menschen gab, die sich ihren Pflichten und Diensten verschrieben haben. Sie haben auf Innovation gesetzt. Sie haben das Unmögliche herausgefordert.

Und dieses einheitliche Ereignis, das sich in einigen Menschen widerspiegelt, ist nicht nur eine Heldentat derer, die es gefördert haben – was es zwar ist, aber nicht nur –sondern es ist auch ein Beweis dafür, dass dies für alle möglich ist.

Wir können uns nicht mit dem Gedanken zufriedengeben: „Sollen sie doch forschen, sollen sie doch suchen. Wir stehen hier mit offenem Mund.“

 

Das Schöpfer Mysterium zeigt uns durch diese Veränderungen und in manchen Fällen so gewaltige Unterschiede all die Ressourcen, mit denen das Wesen ausgestattet ist, um diese Sprünge zu machen.

 

Wir dürfen nicht auf andere warten. Wir müssen mit unseren eigenen Beinen gehen.

 

Und so, in dem Maße, wie wir diese Eindrücke sehen, die in uns das Staunen über die Veränderungen und Variablen hervorruft, welche uns das Leben durch unsere Anwesenheit bietet, ... denn letztendlich ist es die Anwesenheit des Göttlichen, das auf vorgesehene Weise ermöglicht, dass dieses oder jenes geschieht.

 

Das Leben fordert ständig die Pflicht zum Dienen, als eine Form, eine Möglichkeit, uns in der Gemeinschaft mit dem Schöpfer Mysterium zu entdecken. Und in dem Maße, in dem wir diese Haltung einnehmen, offenbart sich uns die Vorsehung, werden Fähigkeiten geweckt, zeigt sich Optimismus und die Grenzen verschwinden.

 

Wir haben die Pflicht zu zeigen – „zu zeigen” im Sinne von Beispiel, von Evidenzen –, dass unsere Möglichkeiten und Ressourcen unbegrenzt sind. Zweifellos wird das jeder „in seinem Tempo” (span.: ‚a su paso‘) machen, aber diese Schritte (span.: ‚esos pasos‘) werden niemals enden. Und jeder Schritt eines jeden muss als ein Schritt betrachtet werden – denn das ist er, auch wenn man es nicht sehen kann –, der endlos ist.

Jede Handlung des Menschen breitet sich schwingungsmäßig auf die Totalität aus.

Und folglich hören wir nie auf (span.: ‚nunca terminamos‘), wir gehen nie in Rente (span.: ‚no nos jubilamos‘), sondern wir jubeln (span.: ‚júbilo‘). Das ist etwas ganz anderes. Wir jubeln (span.: ‚hacemos júbilo‘) über unsere Fortschritte, über unsere erkundenden Formen zu tun.

In diesem Maß fühlen wir uns als Universen und fortwährende Schöpfungen.

Wir heißen diesen neuen Tagesanbruch (span.: ‚amanecer‘) gut: dieses tägliche Erwachen, das uns gegeben wird, ohne dass es von uns etwas verlangt oder gefordert wird.

Und so, in dem Maße, in dem wir dieses Geben erwidern, entsteht unsere Verpflichtung spontan. Es bedarf keiner Aufforderung durch andere. Aber wir wissen, dass wir auf die anderen, die auch wir sind, zählen müssen.

Denn wir sind  für die anderen „andere”. Und in gewisser Weise ist es diese Sichtweise, die uns die Möglichkeit gibt, uns als Einheit zu fühlen, uns als Gemeinschaft zu fühlen, uns in einen Zustand des ständigen Entdeckens und permanenten Staunens versetzt zu fühlen.

 

Das kontinuierliche Erfüllen ... macht uns zu ewigen Zukünften ... ohne Umkehr.

 

 

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